Thierse: Ein Land, das sich nicht ändert, geht unter
Einen Mann, „der die Geschichte derjenigen Deutschen mitgeprägt hat, die die Mauer eingedrückt haben", begrüßte der heimische SPD-Bundestagsabgeordnete René Röspel zu einem „Salongespräch" im Theaterzimmer des Hohenhofes: Wolfgang Thierse sprach in dem mit mehr als 60 Besuchern voll belegten Raum über „Herausforderungen an die innere Einheit Deutschlands".
Das Jahr der Wende 1988/89 sei „ein Wunder" gewesen, erinnerte Thierse an das Ende der DDR. Die 40 Jahre zuvor seien voller Enttäuschungen und Niederlagen gewesen: „Alles wurde niedergewalzt oder gestärkt durch die Rote Armee." Als der Protest immer größer wurde, habe er gedacht: „jetzt oder nie". Der Siegeszug der Demokratie sei nicht mehr aufzuhalten, habe er damals geglaubt und auf ein „goldenes Zeitalter des Friedens" gehofft. Stattdessen habe es „ein Vierteljahrhundert eines tief zerstrittenen Kontinents" gegeben. Trotzdem habe er immer noch „ein Gefühl des Glücks" über die Wiedervereinigung, aber bei den meisten Menschen sei dieses Glücksgefühl inzwischen verbraucht. Die „innere Einheit" sei auch nach 27 Jahren noch nicht erreicht. Das liege auch an den Nachwirkungen von 40 Jahren DDR, ist Thierse sicher: „Die autoritäre Prägung wirkt bis heute nach." Das und die Verunsicherung und Verängstigung nähre den Wunsch nach einfachen Lösungen, fügte Thierse nachdenklich an: „Sind CDU und SPD nicht mit verantwortlich für diese Angst?"
Zum Thema Integration fragte Wolfgang Thierse: „Wozu laden wir die Menschen ein und wozu verpflichten wir sie?" Die Zuwanderer kämen nicht in ein „Wertegerüst", sondern in ein Land mit Menschen, ihrer Kultur und ihrer Geschichte. „Das können wir anbieten", schlug Thierse vor. Dazu gehöre aber auch die Erinnerung an Auschwitz, betonte er: „Das ist keine Schuldzuweisung, sondern eine Aufgabe." Integration habe immer zwei Richtungen und bringe beiden Seiten Vorteile. „Wir haben eine reiche Geschichte der Aneignung von Fremdem." Dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gesagt hat, er wolle nicht, dass sich sein Land ändert, sei zwar aus der Geschichte Ungarns verständlich, „aber völlig falsch", zeigte Thierse sich überzeugt: „Ein Land, das sich nicht ändert, geht unter."