Gleiche Chancen auf gute Bildung
Bildungschancen sind noch immer ungleich verteilt. Wie man „gleiche Chancen auf gute Bildung“ verwirklichen kann, diskutierten die beiden SPD-Bundestagsabgeordneten Ralf Kapschack (EN Nord) und Oliver Kaczmarek mit Experten und Publikum. Wir hatten im Rahmen des Projektes der SPD-Bundestagsfraktion in die Villa Post in Wehringhausen eingeladen. Oliver Kaczmarek ist Leiter der Projektgruppe #NeueChancen und blickte zunächst auf die Erfolge sozialdemokratischer Bildungspolitik von der Einführung der Gesamtschule in den Kommunen des Landes unter Regie des damaligen Kultusministers Jürgen Girgensohn über die Hochschulneubauten unter Johannes Rau bis zur bundespolitischen Einführung des Bafögs als Vollzuschuss unter Kanzler Willy Brandt zurück. Aber das Narrativ vom „aufstiegsorientierten Facharbeitermilieu“ müsse neu erzählt werden, forderte Kaczmarek: „Diese klassischen Bildungsbiographien gibt es nicht mehr.“
Bildungsungerechtigkeit gebe es gleichwohl: 73 Prozent der Akademikerkinder nehmen ein Studium auf, während nur 24 von hundert Kindern aus Arbeiterfamilien den Weg an die Hochschule finden.
Kirsten Rott, seit April des Jahres Regionalkoordinatorin bei „ArbeiterKind.de“, benannte die größten Defizite, mit den jungen Menschen, die als erste aus ihrer Familie an eine Hochschule gehen, umgehen müssen: Fehlende Infos zu Studium und Studienfinanzierung, Ängste und Unsicherheiten und fehlende Vorbilder. Durch engmaschige Beratungsangebote, eigene soziale Netzwerke, Beratungstelefone, Messeauftritte und andere Instrumente ermutigt die Initiative arbeiterkind.de Schülerinnen und Schülern aus Familien ohne Hochschulerfahrung zum Studium.
Gelsenkirchen und die Emscherschiene im nördlichen Ruhrgebiet seien „die ärmste Metropole Deutschlands“, sagte Suat Yilmaz. Der Talentscout der Westfälischen Hochschule setzt dagegen seine Vision vom NRW-Zentrum für Talentförderung in Gelsenkirchen-Ückerndorf. Sie bahnt auch solchen Jugendlichen einen Weg zum Studium, denen der Rat in der Familie fehlt. Yilmaz geht an Schulen und hält Ausschau vor allem nach solchen jungen Leuten, die das Zeug für ein Studium haben, aber von allein nicht unbedingt auf die Idee kommen, zu studieren. Häufig gehören hierzu insbesondere Jugendliche aus Nichtakademiker- und Migrantenfamilien. Gerade in diesen Milieus setzt die Beratung auch bei den Eltern (und manchmal auch gegen sie) an, sagt der Talentscour: „Von den Hunderten Studiengängen kennen türkische Eltern oft nur Arzt, Lehrer oder Jurist“.
Bernhard Kühmel, Leiter des Hagener Rahel-Varnhagen-Kollegs, blickte zurück in die Vergangenheit und beschrieb den „zweiten Bildungsweg“ als vor allem in NRW durch die SPD gefördertes Angebot, das sich bei seiner Gründung an aufstiegsorientierte junge Arbeiter wendete. Das Angebot seines Kollegs richte sich an Frauen in und nach der Familienphase, Migranten. Auch Flüchtlinge, deren im Heimatland erworbene Abschlüsse und Vorleistungen nicht angerechnet werden, besuchen das Abendgymnasium, um Hochschulzugangsberechtigungen zu erwerben.
Die Diskussion mit dem Publikum lenkte den Blick noch auf zahlreiche Defizite des Bildungssystems: Berufliche Orientierung findet am Gymnasium nach wie vor kaum statt, hier liegt der Fokus immer noch auf der hochschulischen Bildung. Die zahlreichen Bildungsgänge der Berufskollegs, die ebenfalls den Weg zur Hochschule öffnen, sind in der gymnasialen Sek II weitgehend unbekannt. Eine Modularisierung von Unterrichtsinhalten könne dagegen die Mauern zwischen Gesamtschule, Gymnasium und Berufskolleg aufbrechen.