Gesundheitsforschung von den Menschen her denken
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Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Im Oktober 2007 ist die „Roadmap für das Gesundheitsforschungsprogramm der
Bundesregierung“ publiziert worden, herausgegeben vom Gesundheitsforschungsrat des
BMBF. Das ist ein Rat, der mit hochkarätigen deutschen Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern besetzt ist. Er hat sich im Beratungsprozess mit über 900
Beteiligten getroffen – leider waren darunter keine Patientenvertreter und
keine Vertreter der Komplementärmedizin; dazu werde ich gleich kurz noch etwas
sagen – und einige Jahre diskutiert. Er hatte die Aufgabenstellung, zu beraten,
welche aussichtsreichen Forschungsthemen im Bereich der Gesundheit zu
identifizieren sind und der Bundesregierung sozusagen mit auf den Weg gegeben werden
können, um ein Gesundheitsforschungsprogramm zu erarbeiten und zu beschließen.
Dieses haben wir im Oktober 2007 auf den Tisch bekommen, und ich muss sagen: Es
ist ein richtiges Schwergewicht – 120 Seiten vollgepackt mit Informationen, wissenschaftlichen
Arbeiten, Handlungsoptionen und Vorschlägen. Wir waren damals, als wir darüber
diskutiert haben, sehr zufrieden damit und haben gesagt: Es wird spannend, was
für ein Gesundheitsforschungsprogramm aus den Vorschlägen der beteiligten
Wissenschaftler entstehen wird.
Knapp anderthalb Jahre später haben wir nachgefragt. Im Januar 2009 bekamen wir
die Antwort: Im April/Mai wird es eine Kabinettsbefassung mit dem
Gesundheitsforschungsprogramm geben. Ein weiteres Jahr später, im Februar 2010,
haben wir noch einmal nachgefragt, wann das Gesundheitsforschungsprogramm
vorliegen wird. Es wurde dann eine ähnliche Antwort gegeben: Kabinettsbefassung
im April/Mai. Ende 2010 flatterte eine Hochglanzbroschüre des BMBF in unsere
Büros – übrigens ohne vorherige Diskussion; ich weiß nicht, in welchen
parlamentarischen Zirkeln das vorher besprochen worden ist –, auf der stand: „Rahmenprogramm
Gesundheitsforschung der Bundesregierung“.
(Ulla Burchardt [SPD]: So viel zum Thema Gemeinsamkeit!)
Das Deckblatt ist übrigens im seit 2005 üblichen CDU-Orange gehalten. Wir waren
sehr gespannt, was in diesem Rahmenprogramm steht. Es sind 48 Seiten; es müssen
ja auch nicht wieder 120 Seiten sein. Aber wenn man hineinschaut, dann findet
man erst einmal eine ganze Reihe von Hochglanzfotos. Sehr interessant! Zieht
man sie ab, bleiben von den 48 Seiten 30 Seiten Text.
(Ulla Burchardt [SPD]: Das ist schön! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Immerhin!)
Auch das ist okay. Wenn man sich diesen Text dann aber ansieht – das ist alles
andere als ein Schwergewicht, Frau Schavan, das ist ein wirkliches Leichtgewicht
–, dann ist die Enttäuschung sehr groß,
(Beifall bei der SPD)
und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund ist ein inhaltlicher: Bei der
Erarbeitung des Gesundheitsforschungsrahmenprogramms haben Sie die
wissenschaftlichen Chancen nicht genutzt;
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sie finden sich im Gesundheitsforschungsprogramm nicht wieder. Sie haben die
Arbeit der deutschen Wissenschaft schlicht und einfach nicht genutzt. Der
zweite Punkt, der mich fast ärgert, ist: Sie haben nicht die Möglichkeit
genutzt, mit dem Gesundheitsforschungsprogramm ein gesellschaftliches und
politisches Zeichen mit einer entsprechenden Dimension zu setzen.
Wenn man das Programm liest, dann erhält man in der Tat den Eindruck, dass die
Gesundheitsforschung in diesem Programm dazu dienen soll, möglichst schnell
wirtschaftlich verwertbare Produkte zu generieren. Sie nennen das: Erkenntnisse
„an den Patienten bringen“. Das zieht sich wie ein roter Faden durch dieses
Programm.
Um das visuell deutlich zu machen, habe ich rote Zettel eingelegt. Überall
dort, wo sich ein roter Zettel befindet, wird die Wirtschaft betont. Das darf
man machen, aber es dient nicht der Gesundheitsforschung. Wir als SPD haben
eine andere Auffassung, Frau Schavan. Gesundheitsforschung soll nicht der Wirtschaft
dienen, sondern den Menschen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der
LINKEN)
Sie hingegen – das haben wir auch in Ihrem Redebeitrag gerade wieder gehört –
zäumen das Pferd von der anderen Seite auf. Für uns steht der Mensch im
Mittelpunkt. Die Frage ist: Wie können wir den Menschen dienen, und wie kann
man vom Menschen her darüber nachdenken, welche Gesundheitsforschung betrieben
werden muss?
(Rudolf Henke [CDU/CSU]: Sie haben doch
keinen
Exklusivvertrag!)
Dann ergeben sich auch noch andere Fragen: Was müssen wir machen, damit die
Menschen gesund bleiben? Was müssen wir in der Forschung tun, damit Kranke wieder
gesund werden?
Vor
dem Hintergrund dieser Sichtweise ergeben sich wieder andere Fragen: Wie sehen
die Lebensbedingungen von Menschen aus? Wie schaffen wir Arbeitsplätze und
Situationen, mit denen es gelingt, dass Menschen gesund bleiben? Wie schaffen
wir entsprechende Lebensbedingungen? Welche Ernährungsforschung und Versorgungsforschung
betreiben wir? Wie gehen wir mit Kranken um?
Das sind die Fragen, die sich ergeben, wenn man vom Menschen her denkt, und das
finden wir in dem Gesundheitsforschungsprogramm leider nicht. Ihre Antworten
sind anders. Zum Teil sind sie nicht vorhanden; die Bereiche Arbeits- und
Dienstleistungsforschung gibt es nicht. Es gibt aber ein Kapitel über Versorgungsforschung,
Ernährungs- und Präventionsforschung. Wie sehen hier Ihre Antworten aus? Sie
können sich hier nicht darauf zurückziehen, dass das nur ein grober Überblick
ist. Es muss mehr sein als nur Textbeiträge.
Ich habe alles mit Spannung gelesen. Auf Seite 33 schreiben Sie: Die Bedeutung
der gesundheitsökonomischen Forschung hat in den vergangenen Jahren erheblich
zugenommen. Der Bedarf an fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen … wird
immer dringlicher. Forschung kann hierfür konsistente Entscheidungsgrundlagen schaffen.
Das ist alles richtig. Jetzt warten wir auf die Vorschläge. Was aber kommt?
Nichts. Es folgt das nächste Kapitel: „Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses“. Darin verweisen Sie darauf, dass mehr Lehrstühle für
Versorgungsforschung geschaffen werden müssen. Das ist Länderaufgabe. Wo ist
die Verantwortung des Bundes? Welche Vorschläge bieten Sie zur
Gesundheitsforschung für die Menschen?
(Ulla Burchardt [SPD]: Keine!)
Das Programm ist eine inhaltliche Enttäuschung für uns. Sie machen keine
Gesundheitsforschung, sondern Krankheitenerforschung. Das greift zu kurz.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich will ein aktuelles Beispiel nennen. Einige Kollegen haben gestern an einer
Veranstaltung zur Komplementärmedizin teilgenommen, bei der es auch um
Naturheilkunde und alternative medizinische Verfahren ging. 90 Prozent der
Menschen, die auf diese Weise behandelt werden, sind sehr zufrieden. Das spielt
also gesellschaftlich eine Rolle.
In der „Roadmap Gesundheitsforschung“ von 2007 wird die Komplementärmedizin im
Kapitel „Krebserkrankungen“ berücksichtigt. Es wird ernsthaft vorgeschlagen, sich
damit zu befassen. In dem vermeintlichen Schwergewicht
Gesundheitsforschungsprogramm findet sich kein Wort dazu. Man findet nicht
einmal das Wort „Behinderung“. Aber zu einem Gesundheitsforschungsprogramm gehört,
wie ich finde, auch Gesundheitsforschung für Menschen mit Behinderung.
Das alles ist sehr enttäuschend. Sie hatten drei Jahre Zeit für das
Gesundheitsforschungsprogramm, die Sie nicht genutzt haben. Wir als SPD hatten
drei Wochen Zeit, als wir erfuhren, dass die Debatte sehr schnell auf die
Tagesordnung gesetzt wird. Wir haben einen Antrag erarbeitet. Er mag nicht
vollständig oder auch verbesserungswürdig sein; aber wir sagen ausdrücklich:
Wir wollen Gesundheitsforschung, die von den Bedarfen der Menschen ausgeht.
(Beifall bei der SPD)
Damit stehen wir nicht alleine. Das Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sieht das genauso. Die Frage ist: Was
hat der Patient davon? Das gilt auch für die Forschung. Wir wollen einen
Aktionsplan Präventions- und Ernährungsforschung. Sie kündigen ihn seit Jahren
an. Wir sagen: Legen Sie ihn endlich vor!
Wir wollen die Stärkung der Patientenautonomie, und
wir
wollen die klinische Forschung stärken. Was Sie eben an bereits existierenden
Maßnahmen aufgeführt haben, Frau Schavan, ist doch auf eine Initiative der SPD zur
Förderung nicht kommerzieller und klinischer Forschung zurückzuführen, die wir
in guter Zusammenarbeit, Herr Kretschmer, gemeinsam in der Großen Koalition auf
den Weg gebracht haben. Sonst wäre nichts passiert.
(Beifall bei der SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Da waren Ihre Anträge noch
qualitätsvoll!)
Wir wollen auch Gender- und Kinderaspekte einbeziehen. Das sind nur einige
Beispiele aus unserem Antrag. Sie wollen in den nächsten fünf Jahren 5,5
Milliarden Euro einsetzen. Auch darauf sind wir sehr gespannt. Wo sind
eigentlich neue Mittel? Denn Sie zählen Forschungsmittel dazu, die längst
bewilligt sind. Entscheidend ist aber nicht das Geld oder die Höhe der Summe, sondern
die Frage: Was nutzt letzten Endes den Menschen? Dafür ist die Forschung da. Das
Gesundheitsforschungsprogramm erfüllt diesen Anspruch nicht. Bedienen Sie sich
gerne aus unserem Antrag. Das tut den Menschen im Lande sicherlich gut.
Danke
schön.
(Beifall bei der SPD)