Politische Verantwortung wahrnehmen - Rede zur Patientenverfügung
Rede zur Zweiten und Dritten Beratung der Entwürfe (Gruppenanträge) zur gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung am 18. Juni 2009.
Hier können Sie sich diese Rede auch im Bundestags-TV anschauen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege René Röspel hat jetzt das Wort.
René Röspel (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwei Jahre nach dem Tod meiner Großmutter frage ich mich noch heute, ob wir alles richtig gemacht haben. Sie war eine Frau, die nie in ein Pflegeheim wollte, eine Frau, die nie in den Rollstuhl wollte, weil sie dies für entwürdigend und beschämend hielt.
Kurz vor ihrem 90. Geburtstag musste sie ins Pflegeheim, und es kam der Tag, an dem sie ihren Besuch am Teich mit ihren geliebten Urenkeln nur noch im Rollstuhl schaffte. Ja, wir haben gegen den Willen verstoßen, den meine gesunde Großmutter ausgedrückt hat, aber nicht gegen den Willen der Erkrankten gehandelt. Sicher bin ich, dass wir zu ihrem Wohl gehandelt haben. Vermutlich haben wir das Selbstbestimmungsrecht der gesunden Frau verletzt, nicht aber das der erkrankten. Wäre es andersherum besser gewesen?
Das ist nicht der einzige Fall, aber der mir nächste, bei dem ich erlebt habe, dass scheinbar unverrückbare und feststehende Positionen eines Menschen sich im Laufe einer Krankheit veränderten und neue, andere Lebensperspektiven hinzukamen.
Solche Konflikte gibt es sicherlich nicht in den Fällen, in denen die Krankheitsverläufe tödlich sind, Heilung nicht mehr möglich ist und medizinische Behandlung das Sterben nur verlängern würde. Eine solche oder ähnlich lautende Formulierung findet sich in vielen Patientenverfügungen, sowohl in der Christlichen Patientenverfügung – der bin ich auf Veranstaltungen am häufigsten begegnet – als auch in der des Bundesministeriums der Justiz. Die Formulierung „tödlich verlaufende Krankheit“ ist eine Selbstbeschränkung, die von vielen Menschen gewählt wird, um vor Fehlinterpretationen sicher zu sein. Diese Formulierung entspricht auch der Reichweitenbeschränkung, die im Entwurf von Bosbach, Röspel und anderen für die einfache Patientenverfügung vorgesehen ist. Die Patientenverfügung wird verbindlich. Diese Reichweitenbeschränkung wird sehr häufig kritisiert.
Die Frage ist allerdings, wie sich ein Patient entscheiden würde, wenn die Krankheit heilbar wäre und er wieder gesund werden könnte. Wenn es darum geht, so zu entscheiden, wie der Patient jetzt in dieser Situation entscheiden würde, wenn er es denn könnte, wenn das die zentrale Aufgabe ist, dann ist die entscheidende Frage, wie wir sicherstellen, dass einerseits nicht diejenigen verlieren, die sich in der konkreten Situation anders entscheiden würden, als sie es als gesunder Mensch in ihrer Patientenverfügung aufgeschrieben haben, weil ihre Patientenverfügung umgesetzt wird, und wie wir andererseits sicherstellen, dass der Wille derjenigen durchgesetzt wird, die sich in der aktuellen Situation trotz Heilungschancen und anderer möglicherweise lebensbejahender Bewertungen des Betreuers einen Handlungsabbruch wünschen würden. Aus meiner Sicht lassen die anderen Gesetzentwürfe dieses Problem letztlich offen und interpretationsfähig und werden zu mehr Unsicherheit führen.
Der Gesetzentwurf der Gruppe Bosbach, Röspel, Göring-Eckardt und andere sieht als Lösung die qualifizierte Patientenverfügung vor. Als Reaktion auf die Anhörung, in der das kritisiert wurde, haben wir die notarielle Beurkundung gestrichen. Wir sehen die qualifizierte Patientenverfügung vor. Wer sich ärztlich beraten lässt, der kann unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung – diesbezüglich unterscheidet sich unser Entwurf nicht vom Stünker-Entwurf – die medizinische Behandlung beenden lassen.
Ich sehe darin keine bürokratische Hürde, was uns häufig vorgeworfen wird, sondern einen Sicherungs- und Erklärungsmechanismus. Wer nach ärztlicher Beratung sagt: „Ja, ich weiß, was meine Patientenverfügung bedeutet, und ja, ich will, dass das so umgesetzt wird“, erhält mit dem Entwurf Bosbach und Röspel mehr Sicherheit, dass sein Wille erkannt und umgesetzt wird.
Ich bitte Sie, Ihre parlamentarische Verantwortung heute wahrzunehmen und für einen der Gesetzentwürfe zu stimmen. Ich glaube, wir sind es den Menschen im Lande schuldig, dass es eine Entscheidung gibt. Ich bitte Sie abschließend, für den Gesetzentwurf Bosbach und Röspel zu stimmen.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Quelle:
Deutscher Bundestag 2009, Plenarprotokoll 16/227 vom Donnerstag, den 18. Juni 2009
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16227.pdf