Grundsatzrede zum Thema Patientenverfügungen
Rede zur Grundsatzaussprache zum Thema "Patientenverfügungen"
René Röspel (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich mich vor vier Jahren zum ersten Mal mit dem Thema Patientenverfügung befasste, war mir ziemlich schnell klar, welche Meinung ich dazu habe: Na klar, ich will selbst entscheiden, wie ich einmal sterben werde. Wer sonst soll denn das Recht dazu haben, über mich und meinen Tod zu entscheiden?
Ich habe mich intensiver mit diesem Thema befasst, Gespräche darüber geführt und irgendwann Menschen kennen gelernt, die froh waren, dass ihre Patientenverfügung nicht umgesetzt worden ist. Der Motorradfahrer, der als 18-Jähriger ein Leben im Rollstuhl für unerträglich gehalten hat und nun nach einem Unfall im Koma lag - wir wissen nicht, was er selbst entschieden hätte. Hätte er den Tod herbeigesehnt oder nach dem Leben geschrien? Dritte haben für ihn entschieden. Die Ärzte haben sich entschieden, weiterzumachen. Heute lebt er im Rollstuhl. Er führt ein anderes Leben, als er es sich als 18-Jähriger vorgestellt hat, aber er hat eine Perspektive. Und er freut sich, wenn ihn seine Kinder besuchen. Es gibt übrigens genug andere gute Gegenbeispiele, das ist keine Frage.
Aber alle diese Erfahrungen haben in mir Zweifel wachsen lassen: Können
wir wirklich die Entscheidung eines Gesunden, der sich nicht in einer
Krankheitssituation befindet, mit der Entscheidung gleichsetzen, die er
in einer Situation als Kranker treffen würde? Folgenlos bleibt übrigens
ein Irrtum in einer solchen Entscheidung immer nur dann, wenn es sich
um eine tödlich verlaufende Krankheit handelt. Deswegen, glaube ich,
ist eine Reichweitenbegrenzung möglich und auch notwendig.
Warum wird in letzter Zeit so viel über Patientenverfügungen
gesprochen? Viele Menschen haben Angst davor, einen einsamen Tod zu
sterben. Viele Menschen haben Angst davor, einen schmerzhaften Tod zu
sterben. Viele Menschen haben Angst davor, bis ans Ende und über das
erträgliche und würdige Maß hinaus an Schläuchen zu hängen und der
Apparatemedizin ausgeliefert zu sein. Und viele äußern einfach den
Wunsch, den Angehörigen nicht zur Last zu fallen: Ich will meinen
Kindern keine Last sein, also möchte ich nicht, dass diese oder jene
Maßnahme ergriffen wird.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt)
Sind Patientenverfügungen die Lösungen dieser Probleme? Geben sie die richtigen Antworten auf die Fragen, die wir diskutieren müssen? Ist die Patientenverfügung geeignet, diese Ängste zu nehmen?
(Zuruf von der SPD: Die Ärztekammer sagt: Ja!)
Wir sind uns sicherlich einig, dass die Lösungen auf einer ganz anderen Ebene liegen - das ist vorhin schon gesagt worden -: den Menschen helfen und garantieren zu können, schmerzfrei in den Tod zu gehen, bessere Palliativ- und Schmerzmedizin, Hospizarbeit, damit man in diesem Land nicht einsam sterben muss. Wahrscheinlich ist es auch dringend notwendig, das Arzt-Patienten-Verhältnis wieder ins Lot zu bringen, also die Abwägung zwischen der Selbstbestimmung auf der einen Seite und der Fürsorgepflicht des Arztes auf der anderen Seite - auf beiden Elementen besteht die Ärzteschaft - vorzunehmen. Dies also muss ins Lot gebracht und ausbalanciert werden, weil das Misstrauen gegenüber moderner Medizin und Ärzten in den letzten Jahren größer geworden ist und sicherlich auch dazu beiträgt, dass viele Menschen solche Entscheidungen treffen wollen. Wenn wir die Defizite in diesem Bereich beseitigen, brauchen wir - davon bin ich fest überzeugt - weniger über Patientenverfügungen zu reden.
Wir sollten aber nicht nur darüber diskutieren, was eine Patientenverfügung für den Einzelnen bedeutet. Wir müssen vielmehr auch darüber diskutieren, was Patientenverfügungen für die Gesellschaft bedeuten. Viele Menschen haben - das wurde vorhin angesprochen - nicht unberechtigte Angst vor den Zuständen in den Pflegeheimen sowie vor würdeloser und endloser Behandlung. Sie fürchten sich vor einer Magensonde. Es ist immer wieder zu hören: Ich will auf keinen Fall eine Magensonde. - Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen: Werden die Patientenverfügungen zu einem „leichten Ausweg“ aus der Pflegemisere? Wird der Kostendruck die Umsetzung von Patientenverfügungen beschleunigen? Wird der gesellschaftliche Druck, anderen nicht zur Last fallen zu wollen oder zu müssen, zunehmen? Egal was wir tun, welche Variante wir bevorzugen, wir werden prüfen müssen, welche Auswirkungen die von uns beschlossenen Gesetze auf die Situation in der Pflege und den Umgang mit Pflegebedürftigen haben. Ich meine, das haben wir noch nicht zu Ende gedacht. Das müssen wir aber tun. Einig sollten wir uns aber zumindest in einem Punkt sein: Wenn es wirklich stimmt, dass einige Pflegeheime die Aufnahme davon abhängig machen, dass man eine Patientenverfügung abschließt, in der bestimmte kostenträchtige Maßnahmen ausgeschlossen sind, dann sollten wir alle gemeinsam darauf hinwirken, dass das verboten wird.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Rolf Stöckel [SPD]: Das ist bereits verboten!)
Wenn jemand sagt: „Ich will so nicht sterben“, dann sollten wir das
akzeptieren und dem Tod nichts in den Weg stellen. Ich glaube, das ist
ein Unterschied. Wenn jemand sagt: „Ich will so nicht leben“, dann
steht der Tod noch nicht vor der Tür; das ist etwas anderes. Dann hat
die Gesellschaft die Pflicht, die richtige Lösung für seine
Verzweiflung anzubieten. Vor vier Jahren habe ich gefragt, wer denn
außer mir die Entscheidung in einer Krankheitssituation treffen soll.
Heute weiß ich die Antwort: Ich.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)